Maurizio Spatola

 

Maurizio Spatola

 

Verlag für totale Poesie



Unter den italienischen Verlagen, die sich in den 1960er und 1970er Jahren der experimentellen Poesie annahmen, ist “Geiger” sicher einer der aktivsten und produktivsten. Dieser Verlag wurde 1968 von Adriano und Maurizio Spatola unter Mitarbeit des Bruders Tiziano gegründet, und zwar sechs Monate nachdem eine Anthologie unter dem Titel „Geiger“ erschienen war. Die erste Nummer der periodisch erscheinenden Zeitschrift, deren Name sich auf den gleichnamigen Zähler zum Messen von Radioaktivität bezieht, war bereits im Sommer 1967 herausgebracht worden. Damals hatte in Fiumalbo, gelegen im Appennin in der Nähe von Modena, ein Poesie- und Performance- Festival mit dem Titel „Parole sui muri“ (Worte auf Mauern) stattgefunden, das Claudio Parmiggiano, Corrado Costa und Adriano Spatola organisiert hatten. Dorthin waren Künstler und Dichter aus der ganzen Welt gekommen, die zehn Tage lang an einem der hochwertigsten und transgressivsten Momente der Kreativität und des kulturellen Austauschs jener Jahre beteiligt waren. Bei dieser Gelegenheit begann Adriano Spatola an einem dichten Netz nationaler und internationaler Kontakte zu weben, das in Form der Beteiligung vieler Schriftsteller an der Zeitschrift konkrete Gestalt annahm, die regelmäßig in Anthologieform erschien.

Die Autoren, die recht unterschiedlicher Herkunft und Staatsangehörigkeit waren (viele davon deutschsprachig), schickten der Redaktion die eigenen Beiträge in 300 Exemplaren. Diese Werke waren jeweils unter Einsatz unterschiedlichster Mittel und Techniken hergestellt worden. Zum Großteil handelt es sich um „Objekt-Seiten“, die auf verschiedene Weise händisch bearbeitet worden waren (mittels Falten, Stanzen oder unter Verwendung von Klammern, Farbfragmenten und Puzzles). Es waren Stück für Stück individuell gestaltete Collagen, Zeichnungen und Exemplare mit Schriftzügen und Schnörkeln. Dazu kamen Fotografien, literaturtheoretische Überlegungen, Texte, Gedichte usw. Unter diesem breiten Fächer an Experimenten nahm das Gestalt an, was Spatola die „totale Poesie“ nannte, die eine breite Palette an Techniken umfasst: von der konkreten zur visuellen Poesie, von der automatischen über die parasurrealistische Schrift bis hin zur engagierten und ideologischen Literatur. Unter den deutschsprachigen Autoren, die Beiträge zu den Anthologien geliefert haben, befinden sich Timm Ulrichs, Gerald Bisinger, Heinz Gappmayr, Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Jochen Gerz, Dietrich Albrecht, Klaus Groh, Fritz Schwegler, Klaus Staeck, Irma Blank, Wolf Vostell, Klaus Peter Dencker, Greta Schoedl, Kurt Hofer, Stefan Hyner, Konrad Balder Schäuffelen, Valeri Scherstjanoi, S. J. Schmidt, Manuela Schwankl.
Das Abenteuer von „GEIGER“ findet 1982 zunächst ein Ende, nachdem neun Nummern der Anthologie und über 100 Bücher erschienen sind. Nach dem Tod Adriano Spatolas wird 1996 zu seinen Ehren noch eine zehnte Nummer veröffentlicht, die von Maurizio Spatola, Arrigo Lora-Totino und Franco Beltrametti (der im August 1995 während der Arbeiten stirbt) herausgegeben wird. Auch diese Nummer erscheint in einer Auflage von 300 Exemplaren, die wie die vorangegangenen einzeln angefertigt werden.

Neben der Zeitschrift gibt der Verlag zwischen 1968 und 1979 in zwei Reihen mit den Titeln “sperimentale” und “poesia” eine große Anzahl an Büchern heraus. Letztere enthält zwei Gedichtsammlungen des Wiener Schriftstellers Gerald Bisinger (1936-1939, lange Zeit Leiter des Literarischen Colloquiums Berlin und Mitarbeiter der Lyrikzeitschrift “Tam Tam”, die 1971 von Adriano Spatola und Giulia Niccolai gegründet wurde): Es handelt sich um die Werke 7 neue gedichte (1971) und Fragmente zum ich (1975), die jeweils von Alberto Tessore und Giulia Niccolai ins Italienische übersetzt wurden. In derselben Reihe erscheint 1976 Dracula Dracula von H.C. Artmann (1921- 2000), dem bekannten Vertreter der Wiener Gruppe, in der italienischen Übersetzung von Giovanni Anceschi. Ein weiterer Text von Bisinger, das Poema ex Ponto von 1977, erscheint in der ersten Nummer einer anderen Zeitschrift, die von Adriano Spatola geleitet wurde, den Titel „Cervo Volante“ trug und im Januar 1981 startete. Jede Nummer dieser Zeitschrift ist in Plakatform mit dem Format 56x92 gestaltet (die dann auf das Format 17x24 zusammengefaltet und mit einem festen Einband versehen wird). Dem Poema ex Ponto, das auch von Giovanni Anceschi übersetzt wurde, sind Zeichnungen der berühmten römischen Malerin Giosetta Fioroni beigefügt.


(Übersetzung aus dem Italienischen, Klaus Neundlinger)


Maurizio Spatola, geboren 1946 in Stradella (Pavia), lebt in Sestri Levante, Ligurien. Früher Kontakt als Gymnasiast mit den Bologneser Literatenszene in der osteria Via de Poeti. Philosophiestudium und Journalist bei „La Stampa“, gründete mit Adriano Spatola zusammen 1968 die Kunst/Poesie-Zeitschrift „Geiger“ und „TamTam“. Eigene konkrete und visuelle Poesie zwischen 1967 und 1972 in Anthologien von Ezio Gribaudo Il peso del concreto (Torino 1968) und in Zeitschriften Chicago Review (USA), Ovum 10 (Uruguay), La Battana e Signal (Jugoslawien), Approches e Doc(k)s (Frankreich), Mec, Pianeta, Quindici e Tool (Italien). Seine Schriften zur Poesie der Avantgarde sind in vielen Tages- und Literaturzeitungen erschienen. 2001 ist er erblindet - doch in der Überzeugung, dass Realität und Existenz selbst Produkte eines pataphysischen Paradoxes seien, macht er weiter mit visueller Poesie und Kunst.

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