Nanni Balestrini

 

Nanni Balestrini

 

Interview mit Nanni Balestrini
von Gertrude Moser-Wagner




GMW: Lieber Nanni Balestrini, ich möchte dir einige Fragen zu deiner künstlerischen Arbeit in ihren Anfängen und zur heutigen Situation der Kunst in Italien stellen. Zunächst interessiert mich, auf welche Weise du in den ersten Jahren in deiner künstlerischen Praxis den vorherrschenden politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Tendenzen etwas entgegengesetzt hast.

NB: Ich habe Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre begonnen, künstlerisch tätig zu sein. Aufgrund meiner schriftstellerischen Tätigkeit und aufgrund meines Engagements in der visuellen Poesie hatte ich natürlich einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, doch bei den Positionen, die ich vertrat, handelte es sich nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Stellung-Beziehen. Ich war damals eng mit einer Gruppe von Dichtern und Schriftstellern meiner Generation verbunden. Wir hatten recht ähnliche Auffassungen, was Kultur, Politik und Gesellschaft betraf. Wir teilten dieselben Interessen und waren vom Begehren nach Veränderung getrieben. Wir wollten alles verändern, weil das gesellschaftliche Klima in Italien nach dem Krieg von Stagnation geprägt war. Wir mussten uns mit einer Generation von Künstlern auseinander setzen, die in den Jahrzehnten zuvor – unter dem Faschismus – groß geworden war. Der Faschismus hatte zwar gegenüber der Kultur keine vollkommen repressive Haltung eingenommen, aber obwohl er Spielräume für freiere künstlerische Aktivitäten zuließ, kontrollierte er sie.

GMW: Bezieht sich deine Beschreibung dieses Klimas in den 1950er und 1960er Jahren vor allem auf Mailand?

NB: Ja, insbesondere auf Mailand, aber man kann das mehr oder weniger auf ganz Italien beziehen, es war eine Situation, die eben nicht nur eine Stadt betraf. Mailand ist insofern besonders interessant, weil sich dort zu jener Zeit eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern zusammenfand, wie Sanguinetti, Eco und einige andere, die (Ende der 1950er Jahre) eine Zeitschrift mit dem Titel "Il Verri" herausgaben. Verri war ein italienischer Schriftsteller, der Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts lebte. Das Klima der Stagnation hat sich dann gewandelt, weil wir als neue Generation eine sehr kritische Haltung einnahmen, die auf Konfrontation mit der Generation vor uns ausgerichtet war.

MW: Wie war es um die Hierarchien und Machtverhältnisse im Mailand der 1960er Jahre bestellt, in dem urbanen Kontext, in dem du dich damals bewegt hast?

NB: In Mailand waren sicherlich die bedeutendsten Verlagshäuser und Zeitungen angesiedelt. Was die Zeitungen betrifft, da hatten wohl die Vertreter der älteren, traditionalistisch eingestellten Generation das Sagen. Sie kontrollierten in hohem Ausmaß diesen Bereich der Presse, der gedruckten Kommunikation. In den Verlagshäusern hingegen war die Situation anders, da es eine neue Generation von Verlegern gab, die sehr offen, sehr innovativ agierten, wie etwa Feltrinelli in Mailand und Einaudi in Turin. In diesen Verlagen arbeiteten Lektoren, die unserer Generation angehörten. Die hatten die Möglichkeit, viele avantgardistische Texte herauszubringen. Wir schlossen uns dann zur Gruppe '63 zusammen, die auch als Neo-Avantgarde definiert wurde. Diese Gruppe hat im Verlauf der 1960er Jahre eine recht interessante Entwicklung genommen. Wir verstanden uns dabei immer in Opposition und Konfrontation mit der Generation vor uns, die war aus unserer Sicht allzu traditionell eingestellt und allzu sehr den alten kulturellen Schemata verpflichtet. Italien war ja lange Zeit noch von der Landwirtschaft geprägt gewesen, und erst in jenen Jahren setzte ein künstlerisch darzustellen.

GMW: Und was ist heute deiner Auffassung nach von deinen Beiträgen, von deiner Position im poetischen Feld geblieben?

NB: Es ist natürlich viel Zeit vergangen seit diesen Ereignissen, 50, 60 Jahre, wir Künstler dieser Generation haben unsere Arbeit fortgesetzt. Das Positive daran ist, dass wir den Eindruck haben, einen neuen Raum geschaffen zu haben. Die jüngeren Schriftsteller wurden sicher von unserer Arbeit beeinflusst, ohne ins Epigonentum zu verfallen, ohne einfach das zu wiederholen, was wir schon gemacht hatten. Die kulturelle Situation Italiens und die Rahmenbedingungen haben sich jedoch vollkommen verändert. In den letzten Jahren ist es sicher schwieriger geworden, künstlerisch tätig sein, auch wegen der Regierungen der letzten zwanzig Jahre. Die gesellschaftliche Situation ist inzwischen sehr angespannt. Das öffentliche Interesse an der Kultur ist stark zurückgegangen, es gibt kaum noch Unterstützung für diesen Bereich seitens der Politik, die Kultur wird beinahe abschätzig behandelt. Dennoch sind neue Generationen von Schriftstellern herangewachsen, eine neue Dichtergenration, vor allem gibt es viele Frauen, die literarisch tätig sind.

Dieses Video-Interview zum Projekt „Gesichtsfeld“ (Gertrude Moser-Wagner und Doris Jauk)
fand im November 2011 in der Fondazione MUDIMA, Mailand statt.


Übersetzung aus dem Italienischen: Klaus Neundlinger


Nanni Balestrini wurde 1935 in Mailand geboren und lebt heute zwischen Rom und Paris. In den frühen 60ern war er Protagonist der „Novissimi“ sowie des „Gruppo 63“, zu dem die Autoren der Neoavantgarde sich zusammenschlossen. Er ist Autor zahlreicher, oft mit genreübergreifenden Techniken experimentierender Gedichtbände und Romane. Einige davon wurden zu Schlüsseltexten der 68’er Generation (z.B. Gli invisibili, Mailand, 1987). Balestrini spielte eine bedeutende Rolle bei der Gründung von Zeitschriften wie „Il Verri“, „Quindici“, „Alfabeta“ u.a. und war auch als bildender Künstler zunehmend erfolgreich (1993 Teilnahme an der Biennale von Venedig). Gedichtbände jüngeren Datums: Sfinimondo (Neapel, Bibliopolis, 2003); Sconnessioni (Rom, 2008); Blackout e altro (Rom, 2009); Lo sventramento della storia (Rom, 2009). Bei Suhrkamp erschien 2009 die mobile deutsche Fassung des Computer-Romans Tristano (mit einem Vorwort von Umberto Eco, deutsch von Peter O. Chotjewitz.)